Ein Hauch von Freiheit

 

Ich weiß nicht, wie es geschah, nicht wann, nicht wodurch es seinen Anfang nahm. Doch nun ist es da und zeigt sich mit aller Macht. Eine destruktive Kraft wirkt auf allen Ebenen und reißt viele Menschen in den Abgrund. Wie klebriger Teer binden sich neu erschaffene Gedankenkonstrukte an fest verankerte Strukturen, vernebeln die Sinne und legen sich erdrückend auf Verstand, Objektivität und Gefühl. Der Verlust an Wachheit und Klarheit ist spürbar, sichtbar, greifbar. Er ist präsent, überall und jederzeit. Viele Jahre beobachte ich, wie die Menschen von sich selbst abrücken, sich von ihrem Wesenskern, dem wahren Sein abkehren, sich Süchten und Gelüsten hingeben, ihnen frönen, dabei stumpf werden und ihren Glanz verlieren. Eine bedenkliche Entwicklung findet statt, treibt die Menschen fort von der Ursprünglichkeit, von den Werten des Miteinanders und der Gemeinschaft und trennt sie von ihren kulturellen Wurzeln ab. Ein Zufall? Nein, es scheint mehr als gewünscht. Empathie und wahrhaftiges Mitgefühl werden durch Scheinheiligkeit und überhöhte Moralvorstellungen ersetzt und erlauben den geringschätzigen, gar überheblichen Blick auf all die, die anderer Gesinnung sind. Es erfüllt mich mit Bedauern, dabei zusehen zu müssen, wie die Menschheit dem Abgrund entgegen trudelt.

 

Ob es mir schmeckt oder nicht. Als Mensch bin ich Teil dieses Prozesses, denn ich bin untrennbar verbunden mit dem Menschsein an sich. Als Naturwesen bin ich den Rhythmen und Wandlungen der Natur ausgesetzt, sie durchströmen mich und wirken in mir. Auch ich wirke, erschaffe mein Erlebnisfeld und bin dessen Gestalter. Selbst wenn in mir Frieden, Gleichmut und Neutralität vorherrscht, so schaue ich doch auf ein besorgniserregendes Chaos. Fragmente einer sich abwärts bewegenden Spirale dringen in mein Feld hinein und erzeugen Ungleichgewichte.

 

Um mich herum wachsen Leid und Bedrohung. Wo bin ich in all dem, was geschieht mit mir und wie kann ich ihm begegnen? Ich kann mich wehren, gar auflehnen, gegen das, was von Menschenhand gemacht ist. Entrüstet kann ich mich der Masse anschließen und die Sündenböcke mit Schimpf und Schande belegen. Doch wem dient meine Gegenwehr? Befeuert sie nicht nur die Systeme, die wie ein Spinnennetz um uns alle herumgesponnen wurden und uns die scheinbare Freiheit eines Gefangenen beim Spaziergang im Gefängnishof suggerieren. Wir sind Kinder der Unfreiheit und wissen nicht, wonach wir streben sollen. Wir wissen es nicht, weil wir keine Vorstellung von Freiheit haben.

 

Freiheit ist ein großer Begriff, heroisch fast. Doch wie soll ein Mensch, der sich mit dem ersten Atemzug in die Begrenztheit hineinatmet, eine Ahnung davon entwickeln, was es bedeutet frei zu sein. Selbst wenn wir nach Freiheit streben, so würden wir, wenn wir uns ihr nähern, erschrocken zurückweichen. Kann ein Menschenwesen, dass sich für diese Welt entschieden hat überhaupt frei sein? Zwanglos, selbstbestimmt, eigenverantwortlich leben und sein? Schon die Annäherung an den Begriff der Freiheit ist ein Wagnis. Es fordert viel, der wahren Kraft, die sie verströmt, standzuhalten. Erst die Abkehr, von dem, was wir Leben nennen, ist der Schlüssel, der das Tor der Freiheit eröffnet. Doch wer wagt schon das Tor zu durchschreiten, wenn er im Gefängnis ein Dach über dem Kopf, drei Mahlzeiten, eine Beschäftigung und genügend Ablenkung vom Wesentlichen hat?

 

In meiner Welt herrscht Frieden