Ein berührendes "Weihnachts"-Geschenk

Das Café am Rande der Innenstadt war einige Jahre lang eine Art Wohnzimmer für mich. Es war der Ort, an dem ich oft zum Schreiben einkehrte. Lange habe ich auf den harten Bänken gesessen und zahllose Texte und Bücher verfasst. Zwischen all dem Trubel, der dort herrschte, konnte ich mich wunderbar konzentrieren und mich voll und ganz dem Schreiben hingeben.

 

Alle, die dort arbeiteten, waren mir stets wohlgesonnen. Es bestand ein stilles Band zwischen uns und wenn wir uns auch nicht wirklich nahe waren, so wechselten wir doch regelmäßig ein paar persönliche Worte. Selbst wenn ich vor lauter Versunkenheit oft über Stunden nur eine Tasse Kaffee trank, fühlte ich mich willkommen und gern gesehen. Doch mit einem Mal änderte sich alles. Eine Schwere zog über das Land und legte die Grundfesten des Miteinanders auf Eis. Dort, wo ich einst willkommen und gern gesehen war, ließ man mich nicht mehr ein. Anfangs war es schmerzhaft zu wissen, dass ich mit einem Mal nicht mehr dazugehörte und dem Liebgewonnenen und Gewohnten dort nicht mehr nachgehen durfte. Doch je weiter die Zeit voranschritt und je größer der Abstand von den einstigen Gewohnheiten wurde, desto leichter fiel es mir. Ich richtete mich in einem neuen Leben ein, mit neuen Orten und neuen Gewohnheiten und ganz langsam verblichen die schönen Erinnerungen, die mit diesem Ort verknüpft waren. Es war ein Abschied auf Raten und obwohl er vollzogen war, schien dort dennoch etwas auf mich zu warten.

 

Der Tag, den ich nach zweieinhalb Jahre Abstinenz für meinen Stadtbesuch wählte, war ein grauer, düsterer und regnerischer Dezembernachmittag. Ich hatte mit mir gerungen, ob ich die Stadt aufsuchen sollte und tat es mit einer großen Portion Widerwillen. Das Gemenge, in das ich bereits nach kurzer Zeit geriet, ließ Unwohlsein in mir aufsteigen. Wie ein Fremdkörper bewegte ich mich zwischen den Menschen. Ich fühlte mich seltsam abgeschnitten von der Masse, mit der ich durch die weihnachtlich dekorierte Fußgängerzone glitt. Es stand nichts Offensichtliches, nichts Greifbares zwischen uns und doch erschien es mir, als seien die Verbindungen gekappt. Ich erledigte, dass, was unbedingt nötig war und wollte schnellstmöglich das vorweihnachtliche Gedränge hinter mir lassen. Als ich den Rückweg antrat, erfasse mich ein Gedanke. Einen, den ich schon des Öfteren gedacht hatte. Was wäre, wenn mein alter Platz, an dem ich so viel gesessen und geschrieben hatte, frei und das Café nicht so voll wäre? Etwas zog mich an, doch ich wusste nicht, was es war. Ich könnte einen kurzen Zwischenstopp einlegen und eine Tasse Kaffee trinken, so wie in alten Zeiten, dachte ich. Meine Füße kannten den Weg, doch mit jedem Schritt, dem ich mich dem vertrauten Ort näherte, wuchsen meine Zweifel. Es sprach in mir: Kaffee kannst du auch zu Hause trinken und etwas Kuchen vom Vortag hast du auch noch. Was willst du dort? Etwa das Alte aufwärmen? Lass es gut sein. Geh heim! Trotz der Gedanken ging ich zielstrebig auf den Eingang zu. Durch die bodentiefen Fenster konnte ich hineinschauen. Das Café war angenehm leer und auch mein Stammplatz war frei. Ich deutete es als Zeichen, fasste mir ein Herz, öffnete die Tür und trat ein.

 

Ich hatte eine Schwelle überschritten und als hätte ich eine Zeitreise gemacht, stand ich wie in einer anderen Welt. Der Geruch von frisch gemahlenem Kaffee strömte in meine Nase und weckte schöne Erinnerungen. Dort zu sein, fühlte sich vertraut und unvertraut zugleich an. Mit dem Gesicht zur Theke gewandt, stand ich im Raum und schaute mich um. Der Kellner, der hinter der Theke stand, schien bemerkt zu haben, dass jemand den Raum betreten hatte. Langsam hob der den Kopf und blickte mich an. Es war ein magischer Moment, in dem Luft zu stehen schien. Ein Erkennen, dann ein Leuchten. Seine Augen begannen zu strahlen und ich strahlte zurück. Mit schnellen Schritten verließ er seinen Platz, kam auf mich zu und ohne ein Wort zu sagen, schloss er mich in seine Arme und drückte mich fest an sich. „Da bist du ja endlich wieder!“, sprach er leise in mein Ohr. „Wie schön, ich habe dich so vermisst!“ Wie aneinander geklebt standen wir auf der Stelle und hielten uns fest. Niemand sprach ein Wort. Dann schob er mich mit langen Armen von sich und schaute mich prüfend an. „Wo warst du nur?“, fragte er und ohne meine Antwort abzuwarten, zog er mich erneut an seine Brust. Ich war sprachlos - und das kommt selten vor - vom Überschwang der Wiedersehensfreude stumm geworden. Es dauerte, bis er mich aus der Umklammerung frei ließ. Nun standen wir voreinander und lächelten uns an. Wieder fragte er: „Wo warst du nur?“, und um sicherzugehen, dass er auch keine Erscheinung hatte, hob er seine Hände und strich meine Wangen, so wie es Omas gerne bei ihren Enkeln tun. „Das ist eine lange Geschichte“, sagte ich und schaute ihm tief in die Augen. „Kommst du denn jetzt wieder öfter?“, setzte er von der Freude des Wiedersehens übermannt erneut an. „Erstmal bin ich auf einen Kaffee hier und dann sehen wir weiter“, antwortete ich. „Ja, einen Kaffee, gerne“, sagte er“, „setz dich doch schon mal auf deinen Platz. Ich bringe ihn dir sofort.“ Er ging hinter die Theke, um den Kaffee zuzubereiten und ich ging zu meinem Tisch.

 

Es war ein hoher Tisch und eine Bank am Rande des Raumes, an dem ich viele Stunden verbracht hatte. Kaum hatte ich die Jacke abgelegt, stand schon das dampfende Heißgetränk vor mir. Ein Herz zierte den Milchschaum. Der Kellner, strahlte mich an und machte keine Anstalten zu gehen. Nah rückte er an meine Seite und legte den Arm um meine Schultern. Wieder sprudelten die Worte aus ihm heraus: „Ich freue mich so, dass du wieder da bist. Ich habe so oft an dich gedacht und mich fragt, wo du bist und wie es dir wohl geht?“ „Gut“, sagte ich, „es geht mir sehr gut.“ „Warum bist du denn so lange nicht hier gewesen?“, hakte er nach. „Weil ich es nicht durfte“, antworte ich. Er weite die Augen und sah mich fragend an. Dann begann ich zu erzählen. „Nun“, sagte ich, „die letzten beiden Jahre, waren eine Zeit der Wandlung für mich. Ich habe die Krise als Chance genutzt und einen anderen Weg eingeschlagen als es ein Großteil der Menschen getan hat. Wie du weißt, habe ich mich voll und ganz der Naturheilkunde und Ganzheitsmedizin verschrieben und konnte die Dinge, die politisch initiiert wurden, nicht mitgehen. Sie entsprachen nicht meiner Vorstellung und Herangehensweise im Umgang mit Krankheit und Gesundung. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich zurückzuziehen und an dem Spiel, das gespielt wurde, nicht teilzunehmen.“ Seine Augen klebten an meinen Lippen und er hörte interessiert zu. „Ich erinnere mich“, setzte ich erneut an, „dass ich im letzten Jahr um diese Zeit nicht einmal den Weihnachtsmarkt besuchen durfte, weil ich ohne einen gewissen körperlichen Eingriff, kein Bändchen erhalten hätte, dass es mir ermöglichte, dort einen Glühwein zu trinken.“ „Nicht, dass mir etwas am Weihnachtsmarkt liegt“, schloss ich an, „oder er mir gefehlt hätte, doch Fakt ist, dass ich eine Zeitlang nur noch Zugang zu Lebensmittelgeschäften hatte. Deshalb war ich auch nicht hier.“ „Echt, so krass war das“, sagte er und blickte mich fragend an. „Ja, so krass war es und noch viel krasser“, parlierte ich. „Was hast du denn dann gemacht?“, setzte er wieder an. „Ich habe viel verändert in meinem Leben, es quasi einmal auf den Kopf gestellt. Meine Praxis habe ich aufgeben und mit einer Freundin die Schule für Sinnkultur gegründet“, fasste ich das Wesentliche in Kurzform zusammen. Versonnen nickte er vor sich hin, fasste meine Hand, die auf dem Tisch lag, drückte sie fest und sagte: „Mir scheint, du hast alles richtig gemacht!“ Ich blickte ihm tief in die Augen, nickte ebenfalls und sagte: „Ich weiß nicht, ob es richtig oder falsch war, die Frage stellte ich mir nicht, aber es war gut und es war mein Weg. Ich bin mir einfach treu geblieben.“ Die Wärme, die mir aus seinen Augen entgegenströmte, rührte mich zutiefst an.

 

„Und wie geht es dir?“, fragte ich ehrlich interessiert. „Wie hast du die Zeit überstanden?“ „Gut“, sagte er, „richtig gut.“ „Wirklich?“, hakte ich nach. Kurz hielt er inne, dann antworte er: „Ja, ich glaube schon. Ich war zweimal im Krankenhaus. Einmal wegen des Magens und einmal, weil ich etwas mit dem Herzen hatte. Aber das ist wieder gut.“ Ich schwieg einen Augenblick länger als nötig gewesen wäre, aber dennoch lange genug, um in ihm eine Unruhe aufsteigen zu sehen, die ihn in Bewegung setzte. „Wie schön!“ sagte ich und nahm den Faden wieder auf, „dass du das alles gut überstanden hast.“ „Ja,“ sagte er, „das ist es auch und selbstverständlich geht der Kaffee auf mich.“ Dann drehte er sich um und wandte sich dem Gastraum zu. „Ich muss dann mal. Wir sehen uns gleich, bevor du gehst“, hörte ich ihn im Weggehen sagen. „Ja“, murmelte ich leise, „das tun wir.“

 

Nun saß ich da, allein auf meinem alten Platz. Kein Laptop, kein Schreibblock, nicht einmal ein Buch, lagen auf dem Tisch, mit denen ich mich hätte ablenken können. Auch das Handy ließ ich bewusst in der Tasche. Ich schaute mich im Raum um. Einiges hatte sich verändert und doch war vieles gleich geblieben. Es hingen neue Bilder auf alter Tapete, zerschlissene Polster lagen auf bekannten Stühlen und auch der Kaffee war nicht der Alte. Er schmeckte anders, bitterer als ich ihn in Erinnerung hatte. Ich wärmte meine kalten Hände an der alten Tasse mit neuem Inhalt und spürte, wie das einstige Wohlbehagen, einer merkwürdigen Befremdlichkeit wich. Mein Blick wanderte nach draußen. Irgendwo musste sich doch ein Ankerpunkt im Alten finden lassen.

 

Der Gehweg war gut frequentiert. Unbekannte und bekannte Gesichter strömten in Richtung Fußgängerzone am Fenster vorbei. Ein Mann kam aus dem Haus gegenüber. Ich kannte ihn, vom Sehen jedenfalls. Er war deutlich jünger als ich. Ich erschrak als mir seine Ausstrahlung gewahr wurde. Ist der alt geworden, dachte ich. Das füllige Haar war ergraut und auch die heitere Erscheinung, die ihn sonst umgab, war einer Trübnis gewichen. Ob ich auch so aussehe, fragte ich mich. Hatten die letzten Jahre auch so tiefe Kerben in mir hinterlassen? Meinem Empfinden nach, war es nicht so, doch ich nahm mir vor es zu überprüfen. Die Kaffeetasse, die ich immer noch in den Händen hielt, war mittlerweile leer und auch ich fühlte eine Leere in mir, die ich im Augenblick nicht zu füllen wusste.

 

Ich stand auf, zog meine Jacke an und ging zur Theke, um mich für den Kaffee zu bedanken. Er hatte schon gewartet. Wieder ließ der deutlich jüngere, türkischstämmige Mann seine Arbeit fallen als ich mich näherte, kam auf mich zu und streckte mir erneut die Arme entgegen. Liebevoll strich er meine Wangen, bevor er mich in seine Arme zog. „Wie schön, dass du da bist. Ich habe so oft an dich gedacht! Wann kommst du wieder?“ Noch ehe ich eine Antwort geben konnte, setzte er nach: „Du bist immer eingeladen und kannst essen und trinken, was du magst!“ Ich war gerührt von so viel aufrichtiger Freude, dass mir die Tränen in die Augen stiegen. „Vielleicht komme ich wieder. Aber ich kann nichts versprechen“, sagte ich mit gedämpfter Stimme. Er nickte leise und schaute mich eindringlich an. „Es war schön hier zu sein und spüren zu dürfen, dass ich willkommen bin“, setzte ich nach. Ein letztes Mal zog er mich an sich. „Auf bald!“, sagte er, dann lösten wir uns voneinander und ich verließ das Lokal. Kaum war ich draußen angekommen, kullerten mir die Tränen über die Wangen. Ich war tief berührt, denn nun wusste ich, was auf mich gewartet hatte.

 

 

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