Schon seit vielen Jahren gönne ich mir regelmäßig Zeit mit mir. Ich empfinde es immer als eine sehr bereichernde Zeit, ganz gleich, wie sie sich gestaltet. Meine ersten Erfahrungen machte ich vor vielen Jahren in einem Kloster, dort kehrte ich ein, um eine Woche zu schweigen. Diese intensive Zeit, war der Auftakt für weitere stille Zeiten, in denen ich mich auf mich selbst besann. Nur ein einziges Mal, wählte ich einen von außen gestalteten (klösterlichen)-Rahmen, denn ich stellte schnell fest, dass ich keine Bedingungen brauche, die mir eine Tagesstruktur vorgeben. Rahmenbedingungen, welcher Art auch immer schränken mich ein, binden meine Gedanken an Abläufe an, die nicht meine sind und halten mich eher davon ab zu spüren, was für mich richtig, wichtig und hilfreich ist. Aus diesem Grunde wähle ich nun einen völlig „freien“ Ort, an dem ich meine Seinzeit verbringe. Dazu miete ich mir irgendwo eine kleine Wohnung, ziehe mich dort zurück und lasse die Welt draußen vor der Wohnungstür. Meine Ansprüche sind nicht hoch, ich brauche weder viel Platz noch sonderlichen Komfort. Auch die Lage der Wohnung ist nicht entscheidend und doch ist es angenehmer, wenn sie an einem naturnahen Ort und nicht inmitten einer trubeligen Stadt liegt. Ich decke mich mit genügend Nahrungsmitteln ein, habe eine Decke und eine Yogamatte im Gepäck, ein paar Bücher und natürlich etwas zum Schreiben. Auch trete ich die Zeit nicht mit irgendwelchen Vorhaben oder besonderen Wünschen an und habe auch keinen Plan im Kopf, wie sie sich gestalten soll. Ich will nichts verbessern, nichts verändern, auch nichts optimieren, auch keinen Erleuchtungsfantasien oder Ähnlichem hinterher hängen. Ich möchte einfach im Sein sein und dort so lange wie möglich verweilen. Mich im Momentsein üben, es verfestigen, unempfindlich machen gegen Ablenkung und Außenreize.
Widerstandslos gebe mich den Impulsen hin, die kommen. Wenn ich müde bin, gehe ich zu Bett. Wenn ich Hunger habe, esse ich, wenn ich mich bewegen möchte, mache ich Übungen. Wenn ich frische Luft brauche, gehe ich spazieren. Wenn es einen Impuls zum Schreiben gibt, schreibe ich und wenn ich lesen möchte, lese ich ein wenig. Allerdings lese ich weder Romane oder Geschichten, denn ich möchte nicht in die Welten andere Menschen oder Protagonisten eintauchen und mich davon forttragen lassen, sondern ich möchte bleiben - im Moment und bei mir bleiben. Zeitungen, Nachrichten, Radio hören, sind ebenso tabu für mich, wie Fernsehen und erst recht der Aufenthalt in sozialen Medien oder im Internet stehen in dieser Zeit nicht an. Auch Telefonate oder Gespräche aller Art sind nicht gewünscht, denn all das würde mich von mir fortführen, mich ablenken und Gedanken in mir erzeugen, die es in dieser Zeit nicht bedarf. Wenn ich etwas lese, dann nur ein paar sinnhafte Zeilen, über die ich anschließend ein wenig nachsinnen kann, jedoch ohne mich tagesfüllend damit zu beschäftigen.
Im „Dasitzen“ üben
Zumeist sitze ich einfach nur da. Sitze da, um das Sofa zu wärmen - wahlweise auch einen
Sessel oder Stuhl, je nach Gegebenheiten. Meine Erfahrung zeigte mir, dass es zumeist eine Zeit lang dauert, bis man lange genug sitzen kann, sodass das
Sofa auch wirklich tiefgehend durchgewärmt ist. Wenn man gerade aus einem vollen und bewegten Alltag in die Ruhezeit hinkommt, dann lässt es sich oft nur
sehr schwer still sitzen. Denn sobald man sitzt und die Augen schießt, wird man eine innere Betriebigkeit, eine raumnehmende Unruhe wahrnehmen können. Eine Unruhe, die einen wieder aufspringen lassen möchte, die einem suggeriert, dass alles andere wichtiger sei, als das, was man
gerade tut – nämlich einfach still dazusitzen. Es braucht Geduld und auch ein wenig Gelassenheit, diese Impulse auszuhalten bzw. auszusitzen. Unser
Verstand liebt die Ablenkung und stachelt uns deswegen förmlich an, nötigt uns regelrecht dazu, etwa zu tun. In meinem Fall z. B. den Koffer auszupacken oder sich die Umgebung anzuschauen,
etwas einzukaufen, eine Tasse Kaffee zu kochen, oder auch dem Hunger nach etwas Süßem nachzugeben. Generell eher, die Wäsche zu legen, den Müll rauszubringen, die Spülmaschine auszuräumen oder
ähnliches. Wenn man jedoch weiß, dass es nur der unruhige Verstand ist, der einen aus der für ihn unerträglichen „Langeweile“ forttreiben möchte, dann kann man seinen pausenlosen Aufforderungen
entspannt entgehen sehen. Und wenn man sich dann, anstatt sich auf die Gedanken im Kopf, auf den Wunsch das Sofa zu wärmen konzentriert, spürt man, wie es tatsächlich wärmer wird und sich der
Verstand langsam beruhigt. Natürlich könnte man sich ebenso gut auch auf die Atmung oder einen Punkt zwischen den Augen konzentrieren. Letztlich ist es nur wichtig, sich nicht in der Welt der
Gedanken zu verlieren.
Vermutlich wird man, gleichgültig wohin man die Aufmerksamkeit lenkt, wahrnehmen, dass, die inneren Aufforderungen weniger und auch leiser werden, vielleicht sogar irgendwann gänzlich verklingen.
Wenn man sich dann auf das Sofa besinnt und spürt, wie es die eigene Körperwärme getrunken hat und tief greifend durchgewärmt ist und man sich im einfachen
so dasitzen regelrecht wohlzufühlen beginnt, dann ist die Phase des Verweilens erreicht. Eine Phase des Beobachtens, des Wahrnehmens und des Lauschens. Diese
Phase kann anfangs Minuten, später auch schon einmal Stunden dauern. Ein mehr zu wollen, als es ist, ist in grundsätzlich in keiner Phase angebracht, denn es erzeugt Druck und ruft schnell Unmut
hervor. Im Zustand der tiefen Ruhe und des Geschehenlassens ist es möglich, das man der Stille begegnet - einem
friedvollen Dahingleiten im Nichts. In diesem Zustand verliert auch das Sofa seine Bedeutung, denn die Wahrnehmung richtet sich in die Weite, bindet sich an nichts Materielles mehr an. Eine
erwartungsfreie Haltung ist auch hier durchaus hilfreich, denn die Stille wird sich zeigen, wenn es so weit ist.
Alles, was kommt
Vielleicht spürt man im Dasitzen irgendwann einen völlig unaufgeregten Impuls seinen Platz zu verlassen. Man kann ihm nachgeben und schauen,
worauf man Lust hat. Ja, tatsächlich Lust hat, denn in dieser Zeit geht es nicht um die Erfüllung von Pflichten oder routinemäßigen Abläufen, nicht darum ein gewohntes Programm abzuspulen,
sondern einfach das kommen zu lassen, was kommen möchte. Und wenn das bedeutet, dass man sich um 13:00 Uhr ins Bett legt und um 23:00 Uhr einen Spaziergang machen möchte, dann ist das so – und
ohne Bewertung, ist es gut und genau richtig, so wie es ist.
Im Verlauf der Selbstbegegnung ist es nicht unwahrscheinlich, dass Gefühle oder innere Bilder aufsteigen. Dinge, für die es im Alltag keinen Raum und auch keine Zeit gab. Doch nun kann man ihnen
den Raum geben, den sie brauchen und sich dem widmen, was sich zeigt. Sollten Tränen dabei aufsteigen, weint man oder man schreibt auf, was sie hervorgerufen haben könnte, oder man beobachtet das
Gefühl und wartet darauf, bis es durch ein anderes Gefühl abgelöst wird. Nach einiger Zeit und diese Erfahrung habe ich bislang immer machen dürfen, ist alles angeschaut und durchgefühlt, dann steigt nichts mehr auf und das Dasitzen fällt zunehmend leichter. Nun wird es von einem ruhigen Wohlbehagen getragen, von Leichtigkeit und
Unbeschwertheit. Auch eine tiefe Freude, einfach da zu sein, erfüllt meine Wahrnehmungen und ebenso ein Gefühl von großer Dankbarkeit, dass ich diese Zeit, in dieser Weise erleben darf, ist
gegenwärtig.
Wenn ich dann im „Sein sein“ angekommen bin, dann verliert alles um mich herum seine Wichtigkeit. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, dass sich das bewusste
Sein in mir „eingerichtet“ hat. Nun ist es stets präsent, gleichgültig, wohin ich gehe und was ich tue. Es ist das im Momentsein, das sich zeigt, ein
Verweilen im Nichtdenken oder Denken, im Fühlen und Beobachten, jedoch, ohne dass es irgendeine Reaktion in mir hervorruft. Es ist ein unaufgeregtes Dasein, dass sich an der Freude nährt, es
erfahren zu dürfen, ein wertfreies Sein, das einfach alles so lässt, wie es ist, das nichts mehr will und auch nichts mehr braucht.
Zurück ins „Leben“
Mit dieser Wahrnehmung beende ich in der Regel meine Einkehrzeit und trage das „im Sein sein“ in meinen Alltag hinein, versuche es dort aufrechtzuerhalten, im Bewusstsein des Seins zu bleiben.
Aber Alltage sind bunt und die Herausforderungen zahlreich und manchmal führt es mich wieder von mir weg, hinaus aus dem bewussten Sein und hinein in die Welt der Gedankenkonstrukte. Deshalb kehre ich immer wieder zurück, an einen stillen Ort, um mit mir zu ein, gönne mir die Zeit, um das im „Sein sein“ es zu festigen, es in mir zu etablieren und irgendwann vielleicht nicht mehr zu verlieren.